Warum Vergebung der Schlüssel zu Selbstfürsorge ist

Raphael Fässler
Raphael Fässler

In diesem Gastbeitrag erklärt Coach Raphael Fässler, warum Vergebung Selbstermächtigung und Selbstfürsorge ist.

Vergebung
Sich und anderen vergeben, kann zu einem Gefühl der Befreiung führen. - Depositphotos

Hierzu möchte ich dir die Geschichte von Lea erzählen, eine Frau, deren Herz schwer ist von Schuld, Groll und tiefem inneren Schmerz. Sie trägt viele Geschichten mit sich – manche hat sie selbst geschrieben, manche waren ihr auferlegt worden.

Wie Schatten liegen sie auf ihrer Seele. Immer wieder kehren dieselben Gedanken und Glaubenssätze zurück: «Weil ich früher einen Fehler gemacht habe, darf ich heute nicht glücklich sein.» Oder: «Weil meine Eltern mir damals so viel Schmerz zugefügt haben, bin ich heute nicht frei.»

Raus aus der Täterrolle

Lea versuchte oft, zu vergeben. Schnell, wie wir es eben gelernt haben: «Ich vergebe dir.» Doch es war leer, bedeutungslos. In ihr brodeln die alten Gefühle weiter – Wut, Trauer, Schuld, Scham. Irgendetwas fehlt. Eines Tages liest sie einen Satz, der sich in ihr Herz brennt: «Was du nicht durchfühlst – was du nicht verstehst – und was du nicht aussprichst, hält dich unbewusst fest.» Und da wird ihr schlagartig klar: Sie ist nie stehen geblieben. Nie hat sie dem Schmerz erlaubt, sich ganz zu zeigen. Nie hat sie die Stille gesucht, in der Vergebung wachsen kann.

Also begann sie, zurückzugehen. In Gedanken. In Tränen. In alte Erinnerungen. Sie schreibt alles auf wie ein Tagebuch. Und in diesem Schreiben fühlt sie – tief, roh und echt. Die Wut auf ihren Vater. Die Scham über ihre eigenen Fehler. Die Einsamkeit in Momenten, in denen niemand da war. Sie stellt sich Fragen, denen sie immer ausgewichen ist: Was wollte ich damals? Wer hätte da sein sollen? Wovor schützt mich mein Groll heute noch?

Raus aus der Opferrolle

Mit der Zeit versteht sie mehr. Sie kann ihre Eltern und deren Geschichte als verletzte Kinder sehen. Sie erkennt ihre eigenen Reaktionen als Versuche, irgendwie zu überleben. Und sie spürt: Jeder Mensch hat auf seine Weise versucht, sein Bestes zu geben – auch sie.

Vor dem Schlafen gehen spricht sie nun jeden Abend laut die Worte des hawaiianischen Ho‘oponopono-Rituals:

«Es tut mir leid. Ich habe mein Bestes gegeben. Bitte verzeih mir. Ich liebe dich. Danke.»

Zuerst klangen sie fremd. Doch mit jedem Wiederholen geschieht etwas – wie wenn sich ein Knoten langsam löst. Ihre Gedanken werden weicher, ihr Herz weiter. Es ist kein plötzlicher Zauber, sondern ein stiller Prozess. Aber eines Morgens wacht Lea auf und spürt Frieden. Nicht, weil alles vergessen ist – sondern weil sie sich nicht mehr dagegen wehrt. Weil sie nicht mehr im Kampf ist.

Ich entscheide, was die Geschichte mit mir macht

Sie versteht: Vergebung ist keine Schwäche. Es ist ein Heimkommen. Zu sich selbst. In die Liebe. In die Verantwortung. In die Freiheit.

Von jetzt an lebt sie anders – friedvoller, freudvoller. Nicht perfekt, aber bewusst. Sie erinnert sich in schwierigen Momenten: «Diese Geschichte hat keine Macht mehr über mich. Ich habe die Wahl.»

Und jedes Mal, wenn die alten Gedanken kommen, atmet sie tief durch und spricht:

«Ich vergebe. Ich fühle. Ich verstehe. Ich liebe.»

Und so ist Lea`s Geschichte keine Wiederholung mehr – sondern Heilung. Ein Neuanfang. Ein Happy End, das mit einem ehrlichen «Es tut mir leid» beginnt.

***

Raphael Fässler wirkt als Therapeut, Coach und Speaker in seiner eigenen Praxis «flowinyou» für ganzheitliche Therapie in Brunnen SZ. Der ehemalige Leistungssportler (Ski Alpin, Juniorenweltmeister) versteht es, Schicksalsschläge, Beschwerden oder Schmerzen nicht als Problem zu sehen, sondern das Geschenk für Wachstum dahinter wahrzunehmen.

Mehr zum Thema:

Weiterlesen