Was ist maladaptives Tagträumen?

Janine Karrasch
Janine Karrasch

Klar, tagträumen machen wir alle mal. Doch bei manchen Menschen ist es zu häufig: Sie leiden unter maladaptivem Tagträumen.

tagträumende frau
Tagträumen macht Spass und tut gut, wenn man es nicht übertreibt. - Depositphotos

Sie kennen das Gefühl: Ein kurzer Moment der Ablenkung, und plötzlich sind Sie in einer anderen Welt versunken. Einer Welt voller perfekter Gespräche, heroischer Taten oder romantischer Begegnungen.

Doch was passiert, wenn diese Flucht in die Fantasie zur Sucht wird und Sie stundenlang in elaborierten Traumwelten gefangen hält, während das echte Leben an Ihnen vorbeizieht?

Was ist maladaptives Tagträumen?

Maladaptives Tagträumen ist eine noch nicht offiziell anerkannte psychische Störung, die sich durch exzessive, unkontrollierbare Tagträume charakterisiert. Diese intensiven Fantasien unterscheiden sich grundlegend von normalem Tagträumen durch ihre Dauer, Komplexität und den Einfluss auf das tägliche Leben.

maladaptives tagträumen
Maladaptives Tagträumen ist eine Form von intensivem und lebhaftem Tagträumen, das so stark ist, dass es die reale Lebensführung beeinträchtigt. - Depositphotos

Betroffene entwickeln, oft über Jahre hinweg, komplexe Geschichten in ihrem Kopf, die wie eine interne Fernsehserie funktionieren. Diese Fantasiewelten können sich derart detailreich und emotional bindend gestalten, dass sie zur primären Quelle für emotionale Erfüllung werden.

Die Grenze zwischen normalem und maladaptivem Tagträumen liegt in der Kontrolle und den Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Betroffenen im Alltag.

Die verborgenen Symptome erkennen

Das auffälligste Merkmal ist die schiere Dauer der Tagtraum-Episoden, die sich über mehrere Stunden erstrecken können. Betroffene berichten oft von einem zwanghaften Charakter ihrer Fantasien, ähnlich wie bei einer Sucht, bei der sie das Bedürfnis verspüren, immer wieder in ihre Traumwelt zurückzukehren.

Körperliche Begleiterscheinungen wie wiederholende Bewegungen, Murmeln oder Gestikulieren während der Tagträume sind häufig zu beobachten. Diese Verhaltensweisen helfen den Betroffenen dabei, tiefer in ihre Fantasiewelt einzutauchen und die Immersion zu verstärken.

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Schamgefühle folgen nicht selten auf maladaptives Träumen. - Depositphotos

Die emotionalen Auswirkungen sind besonders gravierend: Viele Betroffene erleben intensive Scham- und Schuldgefühle wegen ihrer «verlorenen Zeit». Gleichzeitig entwickeln sie eine starke emotionale Abhängigkeit von ihren Fantasiewelten, die oft befriedigender erscheinen als die Realität.

Die wissenschaftliche Spurensuche nach den Ursachen

Die Forschung deutet darauf hin, dass maladaptives Tagträumen oft als Bewältigungsmechanismus für andere psychische Belastungen dient. Es fungiert als Fluchtmöglichkeit aus einer als unbefriedigend oder belastend empfundenen Realität.

Neueste Studien aus 2024 zeigen besonders interessante Verbindungen zu Neurodivergenz, wobei Menschen mit ADHS, Autismus oder anderen neurologischen Besonderheiten häufiger betroffen sind. Diese Erkenntnisse legen nahe, dass bestimmte Gehirnstrukturen und -funktionen eine Rolle bei der Entwicklung des maladaptiven Tagträumens spielen könnten.

Traumatische Erlebnisse in der Kindheit oder chronischer Stress werden ebenfalls als mögliche Auslöser diskutiert. Die Fantasiewelten bieten dann einen sicheren Rückzugsort, der jedoch langfristig zur Vermeidung realer Problemlösungen führen kann.

Begleiterkrankungen und Komorbiditäten

Maladaptives Tagträumen tritt selten isoliert auf, sondern zeigt vielmehr starke Verbindungen zu anderen psychischen Erkrankungen. Besonders häufig sind Angststörungen, Depressionen und Zwangsstörungen bei Betroffenen festzustellen.

Mann traurig, zerweifelt
Depressive Menschen neigen häufiger zu maladaptiven Tagträumen. - Depositphotos

Die Verbindung zu ADHS ist besonders ausgeprägt, da diese Störungen Probleme mit Aufmerksamkeitsregulation und Impulskontrolle gemeinsam haben. Studien zeigen, dass Menschen mit ADHS häufiger zu exzessivem Tagträumen neigen, möglicherweise als Kompensation für Unterstimulation.

Erschreckend ist die hohe Suizidrate unter Betroffenen: Etwa 28 Prozent der Menschen mit maladaptivem Tagträumen haben bereits Suizidversuche unternommen. Dies unterstreicht die Schwere der Erkrankung und die Dringlichkeit professioneller Hilfe.

Diagnose und Bewertungsinstrumente

Da maladaptives Tagträumen noch nicht als offizielle Diagnose anerkannt ist, gestaltet sich die Diagnostik schwierig. Viele Betroffene stellen sich selbst eine Diagnose, was zu verpassten Behandlungsmöglichkeiten für andere erkannte Störungen führen kann.

Das wichtigste Bewertungsinstrument ist die «Maladaptive Daydreaming Scale-16 (MDS-16)», eine Mess-Skala, die speziell entwickelt wurde, um das Ausmass problematischen Tagträumens zu messen. Dieses Tool kann helfen zu bestimmen, ob Tagträume das Leben beeinträchtigen; für eine formale Diagnose taugt es jedoch nicht.

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Studien zeigen, dass besonders Jugendliche und junge Erwachsene stärker betroffen sind. - Depositphotos

Experten fordern zunehmend die Aufnahme von maladaptivem Tagträumen in das DSM-5, nicht als eigenständige Störung, sondern als Form einer dissoziativen Störung. Dies würde bessere Behandlungswege und professionelle Anerkennung ermöglichen.

Behandlungsansätze und Therapiemöglichkeiten

Da es keine spezifische Behandlung für maladaptives Tagträumen gibt, konzentrieren sich Therapeuten meist auf die Behandlung zugrundeliegender Erkrankungen. Kognitive Verhaltenstherapie hat sich als besonders hilfreich erwiesen, um dysfunktionale Denkmuster zu durchbrechen.

Achtsamkeitstraining und Meditation zeigen vielversprechende Ergebnisse: Eine Studie aus 2023 belegte, dass kurze, selbstgeführte Achtsamkeitsprogramme sowohl kurz- als auch langfristig die Symptome reduzieren können. Diese Techniken helfen dabei, die Aufmerksamkeit bewusst zu steuern und aus automatischen Tagtraum-Mustern auszubrechen.

Lifestyle-Veränderungen wie regelmässiger Sport, strukturierte Tagesabläufe und die Reduzierung von Triggern (bestimmte Musik oder Orte) können ebenfalls unterstützend wirken. Wichtig ist dabei, die Fantasie nicht komplett zu unterdrücken, sondern einen gesunden Umgang damit zu entwickeln.

Neue Forschungserkenntnisse und Zukunftsperspektiven

Die Forschung zu maladaptivem Tagträumen hat 2024 bedeutende Fortschritte gemacht, insbesondere in der Neurobiologie und bei der Entwicklung verkürzter Bewertungsinstrumente. Neue bildgebende Verfahren beginnen, die Gehirnaktivität während maladaptiver Tagträume zu entschlüsseln.

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Scans zeigen veränderte Hirnaktivitäten. - zVg

Besonders interessant sind aktuelle Erkenntnisse zur Rolle der Emotionsregulation und Belohnungssysteme im Gehirn. Diese Forschung könnte zu gezielteren Behandlungsansätzen führen, die spezifisch auf die neurobiologischen Grundlagen der Störung abzielen.

Die wachsende Anerkennung in der wissenschaftlichen Gemeinschaft führt zu mehr Forschungsgeldern und klinischen Studien. Experten sind optimistisch, dass maladaptives Tagträumen in den kommenden Jahren als offizielle Diagnose anerkannt wird, was den Weg für standardisierte Behandlungen ebnen würde.

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